
Blutbad in Rio: Wenn der Staat zum Henker wird
Die brasilianische Millionenmetropole Rio de Janeiro erlebte einen der schwärzesten Tage ihrer ohnehin blutgetränkten Geschichte. Bei einem martialischen Polizeieinsatz gegen die Drogengang Comando Vermelho starben mehr als 60 Menschen – ein Massaker, das selbst für die an Gewalt gewöhnte Stadt neue Maßstäbe setzt. Was sich hier unter dem Deckmantel der Verbrechensbekämpfung abspielte, wirft fundamentale Fragen über staatliche Gewalt und die Grenzen polizeilicher Befugnisse auf.
Krieg in den Favelas
Mit 2500 schwer bewaffneten Beamten, gepanzerten Fahrzeugen und Kampfhubschraubern rückte die Polizei in die Armenviertel ein. Die Bilder erinnerten eher an einen Militäreinsatz in einem Kriegsgebiet als an eine polizeiliche Operation in einer Großstadt. Rauchwolken stiegen über den Favelas auf, Schüsse hallten durch die engen Gassen. Am Ende des Tages zählte man mindestens 64 Tote, darunter vier Polizisten.
Gouverneur Claudio Castro sprach vom größten Einsatz in der Geschichte des Bundesstaates und präsentierte stolz die Beute: 81 Festnahmen, 93 beschlagnahmte Gewehre und eine halbe Tonne Drogen. Doch rechtfertigen diese Zahlen wirklich ein solches Blutbad? Die lapidare Erklärung, die Getöteten hätten „Widerstand gegen die Polizei geleistet", klingt wie eine Blankovollmacht für außergerichtliche Hinrichtungen.
„Narko-Terrorismus" als Rechtfertigung
Castro bemühte große Worte und sprach von „Narko-Terrorismus", nachdem ein Video aufgetaucht war, das angeblich eine von Gangmitgliedern gesteuerte Drohne zeigt, die ein Geschoss abwirft. Doch selbst wenn diese Bedrohung real ist – rechtfertigt sie ein derartiges Vorgehen? Die Grenze zwischen notwendiger Härte und staatlichem Terror verschwimmt hier bedenklich.
„So wird die Polizei von Rio von den Kriminellen behandelt: Mit von Drohnen abgeworfenen Bomben", schrieb der Gouverneur.
Diese Rhetorik erinnert fatal an die Eskalationsspirale, die wir auch in anderen Ländern beobachten können. Wenn der Staat beginnt, mit den gleichen Mitteln zurückzuschlagen wie die Kriminellen, verliert er seine moralische Legitimation. Die Favelas werden zum rechtsfreien Raum, in dem das Recht des Stärkeren gilt – und der Staat ist nun mal der Stärkste.
Internationale Empörung
Das UN-Menschenrechtsbüro zeigte sich „entsetzt" über die Gewalt und forderte eine „rasche und wirksame Untersuchung". Doch wer glaubt ernsthaft daran, dass diese Untersuchung zu Konsequenzen führen wird? In Rio de Janeiro starben im vergangenen Jahr rund 700 Menschen bei Polizeieinsätzen – durchschnittlich knapp zwei pro Tag. Das System hat sich längst an diese Normalität des Tötens gewöhnt.
Der Menschenrechtsausschuss des Parlaments von Rio kritisierte, die Favelas seien „erneut zum Schauplatz von Krieg und Barbarei" gemacht worden. Erneut – dieses Wort sagt alles. Es ist nicht das erste Mal, es wird nicht das letzte Mal sein.
Der Preis der „Sicherheit"
Besonders pikant: Der Einsatz erfolgte kurz vor wichtigen Veranstaltungen im Zusammenhang mit dem UN-Klimagipfel COP30. Die Stadt sollte offenbar „gesäubert" werden, um den internationalen Gästen ein sicheres Umfeld zu bieten. Doch zu welchem Preis? Die Bewohner der Favelas zahlen mit ihrem Blut für die Illusion von Sicherheit in den besseren Vierteln.
Was in Rio de Janeiro geschieht, ist symptomatisch für den gescheiterten „Krieg gegen die Drogen" weltweit. Statt die sozialen Ursachen der Kriminalität anzugehen, setzt man auf immer brutalere Repression. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter, und am Ende verlieren alle – außer vielleicht die Waffenindustrie und die Bestattungsunternehmer.
Die brasilianische Gesellschaft steht vor einer Grundsatzentscheidung: Will sie weiterhin zusehen, wie ihre Armenviertel zu Schlachtfeldern werden? Oder findet sie den Mut, neue Wege zu gehen? Die 64 Toten von Rio mahnen zur Umkehr. Doch die Geschichte lehrt uns: Solange die Mittelschicht sich sicher fühlt, wird sich wenig ändern. Die Favelas bleiben die Opferzone einer gespaltenen Gesellschaft.
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