
Wenn westdeutsche Moralapostel den Osten belehren wollen: Der Fall Abdollahi
Ein deutsch-iranischer TV-Moderator aus Hamburg beschwert sich über leere Stuhlreihen bei seiner Lesung in Leipzig – und entfacht damit eine Debatte, die tief in die Wunden der deutschen Teilung schneidet. Michel Abdollahi, bekannt für seine Reportagen gegen Rechtsextremismus, hatte am 14. November ein wütendes Video ins Netz gestellt, in dem er über den schleppenden Kartenverkauf für seine Ostdeutschland-Tour schimpfte.
"Ich reiße mir den Arsch auf, um in Ostdeutschland Veranstaltungen für mein Buch zu machen", wetterte der Hamburger Moderator in die Kamera. Er verdiene dort nichts, wolle aber die Menschen unterstützen, die sich gegen Neonazis stellten. Doch es käme "kein Schwein" zu seinen Lesungen. Seine Diagnose: In Ostdeutschland laufe "strukturell irgendwas grandios schief".
Die ewige westdeutsche Überheblichkeit
Was Abdollahi als moralischen Weckruf verstand, entpuppte sich als Paradebeispiel westdeutscher Arroganz. Hier maßt sich wieder einmal jemand aus dem Westen an, den Osten zu diagnostizieren, zu therapieren und zu belehren. Als ob die Menschen in Leipzig, Dresden oder Rostock nur darauf gewartet hätten, dass ein Hamburger Moderator ihnen erklärt, wie Demokratie funktioniert.
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Ostdeutsche Autoren, Historiker und Aktivisten meldeten sich zu Wort – nicht etwa, um Abdollahis Engagement gegen Rechtsextremismus zu kritisieren, sondern um auf die Anmaßung hinzuweisen, mit der hier wieder einmal über "den Osten" geurteilt wurde. Ein Satz brachte es auf den Punkt: Vielleicht will der Osten gar nicht gerettet werden. Schon gar nicht von selbsternannten Missionaren aus dem Westen.
35 Jahre nach der Wende: Die Mauer in den Köpfen steht noch
Der Fall Abdollahi ist symptomatisch für ein Problem, das Deutschland auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch immer spaltet. Die Deutungshoheit über Ostdeutschland liegt fest in westdeutscher Hand. In den Chefetagen der großen Unternehmen, in den Redaktionen der Leitmedien, in den Spitzenpositionen von Verwaltung und Justiz – überall sind Ostdeutsche dramatisch unterrepräsentiert.
Der Berliner Soziologe Steffen Mau spricht von einer "Phantomgrenze", die das Land weiterhin durchziehe. Nach 1990 sei der Osten als defizitärer Raum verstanden worden, der sich gefälligst an den Westen anzupassen habe. Institutionen, Regeln und Mentalitäten sollten sich "verwestlichen". Eine echte Vereinigung auf Augenhöhe? Fehlanzeige.
"Wer über Ostdeutschland spricht, sitzt meist auf dem Oberdeck eines westdeutschen Schiffs", beschreibt es ein ostdeutscher Soziologe treffend. Die Perspektive ist immer von oben nach unten, von West nach Ost, vom vermeintlich Überlegenen zum angeblich Defizitären.
Die Arroganz der selbsternannten Demokratieretter
Besonders perfide wird diese Haltung, wenn sie im Gewand der moralischen Überlegenheit daherkommt. Da reist ein Moderator aus Hamburg nach Leipzig, um den Menschen dort zu erklären, wie man sich gegen Rechtsextremismus engagiert – als ob es in Ostdeutschland keine eigene, gewachsene Zivilgesellschaft gäbe, die seit Jahrzehnten genau diesen Kampf führt.
Autoren wie Lukas Rietzschel und Aktivistinnen wie Charlotte Gneuß erinnerten Abdollahi daran, dass die ostdeutsche Zivilgesellschaft nicht auf den Applaus westdeutscher Bühnen angewiesen sei. Sie kämpften täglich gegen Rechtsextremismus, gegen Mittelknappheit und Einschüchterung – ohne dass dafür ein Hamburger Moderator anreisen müsste.
Der "Besserwessi" lebt
Die Figur des "Besserwessis" ist keine Erfindung verbitterter Ostdeutscher, sondern bittere Realität. Wenn der frühere Ostbeauftragte Marco Wanderwitz (CDU) erklärt, Teile der Ostdeutschen seien so "diktatursozialisiert", dass sie auch 30 Jahre nach der Wende nicht in der Demokratie angekommen seien, dann offenbart das eine Verachtung, die tief sitzt.
Zwischen 40 und 60 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich laut Umfragen als "Bürger zweiter Klasse". Angesichts solcher Aussagen von westdeutschen Politikern kann man ihnen dieses Gefühl kaum verdenken. Wer Menschen über Jahrzehnte erklärt, sie seien defizitär, darf sich nicht wundern, wenn diese irgendwann sagen: Behaltet eure Belehrungen für euch.
Zeit für einen Perspektivwechsel
Der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann hat in seinem Bestseller "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen: Der Osten existiert in vielen westdeutschen Debatten vor allem als Projektionsfläche. Als Problemzone, die man erklärt, therapiert und durchleuchtet. Nicht als gleichberechtigter Teil einer gemeinsamen Republik.
Was Deutschland braucht, ist keine neue Welle westdeutscher Missionare, die den Osten "retten" wollen. Was wir brauchen, ist echte Augenhöhe. Respekt für unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven. Die Anerkennung, dass Ostdeutsche ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Kämpfe und ihre eigenen Lösungen haben.
Michel Abdollahi mag es gut gemeint haben mit seiner Tour durch Ostdeutschland. Doch solange westdeutsche Akteure glauben, sie müssten den Osten belehren statt ihm zuzuhören, wird die Mauer in den Köpfen bestehen bleiben. Es ist höchste Zeit, mit dem Retten aufzuhören und anzufangen, sich gegenseitig ernst zu nehmen. Nur so kann aus zwei deutschen Staaten wirklich ein gemeinsames Land werden.
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