
Rechtsstaat auf Abwegen: Der fragwürdige Fall Kurt Hättasch und die „Sächsischen Separatisten"
Ein junger Familienvater sitzt seit über einem Jahr in Untersuchungshaft, seine kleine Tochter kann er nur durch eine Glasscheibe sehen. Der Vorwurf wiegt schwer: versuchter Mord an Polizeibeamten und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Doch je genauer man hinschaut, desto mehr Zweifel tauchen auf. Der Fall Kurt Hättasch wirft ein grelles Licht auf die Funktionsweise unseres Rechtsstaates – und was dabei schiefläuft.
Ein Morgen im November, der alles veränderte
Es ist der 5. November 2024, sechs Uhr morgens. Die Eliteeinheit GSG9 stürmt ein abgelegenes Grundstück in Sachsen. Im Haus: der 25-jährige Handwerksmeister Kurt Hättasch, seine Frau, die wenige Monate alte Tochter und sein Vater. Was dann geschieht, liest sich wie aus einem schlechten Krimi: Schwarz vermummte Gestalten, Scheinwerferlicht, Schüsse – und am Ende liegt Hättasch mit einem Kieferdurchschuss am Boden.
Der ehemalige AfD-Kommunalpolitiker soll Teil der „Sächsischen Separatisten" sein, einer Gruppe, die angeblich Ostdeutschland aus der Bundesrepublik herauslösen wollte. Das Kürzel „SS" sei dabei kein Zufall, betont der Generalbundesanwalt. Doch was ist dran an den Vorwürfen?
Wenn Polizisten zu Antifa-Aktivisten werden – zumindest in der Wahrnehmung
Hättasch behauptet, er habe die schwarz vermummten Gestalten für Antifa-Aktivisten gehalten. Ein absurder Gedanke? Nicht unbedingt. Im Jahr 2021 gab es in Sachsen tatsächlich einen Fall, bei dem als Polizisten verkleidete Linksextremisten einen Mann überfielen. Auch Hättaschs Vater will nicht erkannt haben, dass es sich um echte Polizisten handelte.
„Ich stand total unter Schock. Ich dachte nur, die werden mir und meinem Kind schon nichts Böses tun", sagt Hella Hättasch über jenen Morgen.
Während sich die Ehefrau mit dem Baby in die Obhut der vermeintlichen Beamten begibt, reagiert Hättasch anders. Als Jäger und legaler Besitzer von sechs Langwaffen greift er zu seinem Repetiergewehr Mauser 98. Er habe sich nur verteidigen wollen, beteuert er. Die Staatsanwaltschaft sieht das anders: Sie wertet sein Verhalten als versuchten Mord aus niederen Beweggründen.
Widersprüche, wohin man schaut
Die Beweislage ist gelinde gesagt dünn. Die Polizisten selbst können sich nicht einmal auf die Sichtweite einigen: Der eine spricht von 100 Metern, der andere von 30. Es herrschte Nebel an jenem Morgen. Die Bildaufnahmen, die Hättaschs angebliche Mordabsicht belegen sollen? Selbst der Generalbundesanwalt räumt ein, sie seien „eher schlecht".
Besonders pikant: Ein Polizeibeamter gab zunächst zu Protokoll, es sei nur zweimal in den Boden geschossen worden – als Warnung. Hättaschs Kieferverletzung stamme von einem Stock, auf den er gefallen sei. Diese Darstellung erwies sich als glatte Lüge, als die Ärzte das Projektil aus seinem Körper entfernten.
Die merkwürdige Logik der Anklage
Der Generalbundesanwalt konstruiert eine geradezu abenteuerliche Theorie: Hättasch habe mit strategischem Kalkül gehandelt. Seine zwei Notrufe bei der örtlichen Polizei? Nur ein Trick, um später eine „Putativnotwehr" vortäuschen zu können. Die Beamten befanden sich demnach in einer Ausnahmesituation – der Familienvater jedoch nicht. Eine Logik, die selbst hartgesottene Juristen zum Kopfschütteln bringt.
Der renommierte Strafrechtler Reinhard Merkel äußert erhebliche Zweifel: „Mir scheint die derzeitige Beweislage ziemlich dünn." Tatsächlich basiert die Anklage hauptsächlich auf Mutmaßungen und Interpretationen, nicht auf harten Fakten.
Die „Sächsischen Separatisten" – mehr Schein als Sein?
Was ist eigentlich mit dieser ominösen Terrorgruppe? Bei Hausdurchsuchungen fand die Polizei Messer, Macheten – und Attrappen von Handgranaten sowie Airsoft-Waffen. Spielzeugwaffen als Beweis für Terrorismus? Der Plan der Gruppe klingt eher nach einer Mischung aus Größenwahn und Realitätsferne: Die Anführer wollten sich beim „Tag X" auf ein Anwesen in Österreich zurückziehen und von dort den Aufstand koordinieren.
Hättasch lernte den mutmaßlichen Kopf der Gruppe, Jörg S., im Jahr 2022 bei Survival-Aktivitäten kennen. Der Generalbundesanwalt spricht von „Wehrsportübungen". Hättasch nahm zweimal teil, zuletzt im Mai 2023. Von den angeblichen Umsturzplänen will er nichts gewusst haben.
Fehler über Fehler in der Anklage
Die Anklagebehörde leistet sich peinliche Schnitzer. Eine Nachricht, die beweisen soll, dass Hättasch bis zuletzt aktives Mitglied war, stammt in Wahrheit aus dem Mai 2023, nicht 2024. Der Ankauf von Funkgeräten für je 10 Euro wird als Beweis für Umsturzvorbereitungen gewertet – eine Interpretation, die jeder Grundlage entbehrt.
Selbst die angeblichen Belege für Hättaschs nationalsozialistische Gesinnung sind mehr als dünn. Eine einzige Aussage aus dem Jahr 2016 – da war er 16 Jahre alt – soll seine Überzeugung belegen. Das BKA selbst stellt fest, dass er sich seitdem kein einziges Mal mehr so geäußert habe.
Ein Rechtsstaat, der sich selbst ad absurdum führt
Der Fall Hättasch zeigt exemplarisch, wie unser Rechtsstaat in der Terrorismusbekämpfung über das Ziel hinausschießt. Ein junger Mann, der möglicherweise nur zur falschen Zeit am falschen Ort mit den falschen Leuten Kontakt hatte, wird zum gefährlichen Terroristen stilisiert. Die Beweislage? Dünn bis nicht vorhanden. Die Konsequenzen? Verheerend für eine junge Familie.
Während echte Gefährder oft unbehelligt bleiben, während die Kriminalität in Deutschland neue Rekorde erreicht und Messerangriffe zur traurigen Normalität werden, verschwendet der Staat seine Ressourcen für fragwürdige Verfahren. Die GSG9 gegen einen Familienvater, der glaubte, sich gegen Antifa-Aktivisten verteidigen zu müssen – ist das die neue Prioritätensetzung unserer Sicherheitsbehörden?
Es ist höchste Zeit, dass wir uns fragen: Wollen wir einen Staat, der auf Verdacht und Mutmaßungen hin Menschen wegsperrt? Oder einen, der sich an Fakten und rechtsstaatliche Prinzipien hält? Justitia trägt nicht umsonst eine Augenbinde – sie soll unvoreingenommen urteilen, nicht auf Zuruf der Politik handeln.
Der Fall Hättasch ist mehr als nur ein Einzelschicksal. Er ist ein Warnzeichen dafür, dass unser Rechtsstaat dabei ist, seine eigenen Grundlagen zu untergraben. Wenn selbst renommierte Strafrechtler wie Reinhard Merkel Zweifel an der Arbeit der Anklagebehörden äußern, sollten wir alle hellhörig werden. Denn am Ende geht es um mehr als nur um einen Mann in Untersuchungshaft – es geht um die Frage, in was für einem Land wir leben wollen.
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